Ein Kommentar zu einem ZEIT-Artikel
Jana Simon über Kurt Krömer, alias Alexander Bojcan im ZEIT Magazin, No 11, 10. März 2022:
„Er redet privat oft genau wie Kurt Krömer auf der Bühne: rotzig, viele Kraftausdrücke, Berliner Slang. Als wolle er fortwährend darauf hinweisen, woher er stammt: von der Straße, aus dem Proletariermilieu. Auf der Bühne funktioniert das gut, aber im persönlichen Leben vernebelt dies manchmal die Sicht auf ihn. Auf einen Mann, der sich selbst und andere sehr sensibel beobachten und einschätzen kann. Der Schriftsteller Jakob Hein, der Krömer seit 25 Jahren kennt, nennt ihn deshalb auch ‚meinen klügsten ungebildeten Freund‘.“
#Berliner Slang
#Proletariermilieu
#funktioniert
#sensibel
#einschätzen
#klug
#ungebildet
#Klassismus
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Wie Alexander Bojcans sozialer Hintergrund sich korrekt bestimmen lässt, weiß ich nicht. Was ich durch Jana Simon darüber erfahre, bezieht sich auf die Berufe der Eltern, das aggressive Temperament und den Alkoholkonsum des Vaters, die Ästhetik des elterlichen Wohnzimmers und deren Wohnorte.
Vater = Tischler, aggressiv, Alkoholiker
Mutter = Schneiderin
Wohnzimmer = kackbraun, gekachelter Couchtisch, volle Aschenbecher
Geboren in Neukölln, aufgewachsen im Wedding.
So ungefähr sahen vielleicht Frau Simons Interviewnotizen aus, als es ihr zu Beginn des Gesprächs zunächst darum ging, Informationen zu Kurt Krömers Kindheit zu sammeln.
Nachdem diese Informationsschlagwörter in einer halben Textspalte untergebracht sind, scheint es der Autorin angemessen, im weiteren Verlauf des Artikels von „Krömers Herkunft“ zu sprechen. Kommt es mir nur so vor, als ob die Umschreibung „soziale Herkunft“ immer nach „unten“ oder in ein undefiniertes ökonomisches Abseits verweist? Ist „Herkunft“ die neue „Unterschicht“? Wer sind diese Menschen, die eine Herkunft aufweisen? Meint soziale Herkunft ganz einfach die Lebenswelt der Armen oder übersehe ich hier was?
Das Wort Herkunft deutet für mich auf einen Ort, der NICHT hier ist, sondern WOANDERS liegt. Herkunft ist so gesehen Ausland. Geografisches, politisches, kulturelles oder soziales Ausland. Jedenfalls wird in dem Artikel deutlich, dass der Autorin die holzschnittartigen Beschreibungen der sozialen Ursprungsumgebung ausreichen, um diese als „Herkunft“ zu markieren.
Ob sie diese Diagnose vornimmt, weil ihr die Begriffe Arbeiterschicht, Wedding/Neukölln, Alkohol und volle Aschenbecher als Schlagwörter ausreichen, um daraus eine Herkunft zu basteln, die für sie aus dem Rahmen einer angenommenen sozialen Norm herausfällt, oder eine einfache und wertfreie soziale Zuordnung unternimmt, kann ich natürlich nicht wissen.
Ich weiß nur, dass Simon eine Sprache, die ihr so vorkommt: „rotzig, viele Kraftausdrücke, Berliner Slang“ folgendermaßen verortet: „von der Straße, aus dem Proletariermilieu“.
Im Zusammenspiel mit dem obigen Zitat liefert Simons Herkunftsdiagnose ein wunderbares Lehrbeispiel über klassistische Denkprinzipien, und ich schreibe diesen Kommentar, weil mich diese paar Textzeilen enorm aufregen.
Simon räumt ein, dass das zitierte Sprachverhalten „auf der Bühne gut funktioniert“, formuliert aber gleich die Annahme mit, Bojcan verstelle seine wahre Sprache, wenn er den Krömer gibt. Dass der ZEIT-Artikel hier keine anderen Interpretationsmöglichkeiten anbietet, deutet aus meiner Sicht darauf hin, dass Frau Simon sich Krömers Sprachcode nicht anders erklären kann als ein von Bojcan intendiert eingesetztes künstlerisches Mittel zur Erschaffung einer erfolgreichen Kunstfigur. Diese Schlussfolgerung funktioniert eigentlich nur mit der Grundannahme, Bojcan müsse seinem privaten und „echten“ Sprachcode etwas hinzufügen, das nicht wahrhaftig angelegt sein kann. Hier sitzt schließlich ein erfolgreicher Künstler im ZEIT-Interview, der gerade ein Buch geschrieben hat und als enorm intelligent wahrgenommen wird. So jemand muss sich, aus Simons Perspektive, quasi naturgemäß für die praktische Anwendung eines restringierten Codes verstellen.
Ich verstehe das nicht. Vielleicht setzt Simon voraus, dass Bojcan aus der Position des klugen Beobachters heraus handelt? Das Wunderkind, entsprungen aus einem ihm nicht ebenbürtigen Milieu? Was Simons Motivation angeht, kann ich, wie schon gesagt, nur Vermutungen anstellen. Fest steht aber, dass es ihr gar nicht in den Sinn kommt, Kurt Krömer könnte nicht nur auf der Bühne, sondern auch als Privatperson Alexander Bojcan berlinern und „Scheiße“ sagen. Und das, obwohl Simon erst 3 Absätze zuvor höchst eigenständig aus den Schlagwörtern Wedding, Alkohol und vollen Aschenbechern Bojcans Herkunftscocktail zusammenmixte.
On top kommt aber jetzt noch eine – ja, wie kann man das nennen – sagen wir mal: etwas weltfremde Vermutung, die hoffentlich auf dem naiven Unglauben gründet, dass jemand, „der sich selbst und andere sehr sensibel beobachten und einschätzen kann“ unmöglich gleichfalls auch Dialekt spricht und Kraftausdrücke benutzt. Simons Vermutung, Bojcan würde, weil er so spricht, wie er spricht, durch seine Sprechweise auf irgendetwas hinaus wollen, „als wolle er fortwährend darauf hinweisen, woher er stammt“, finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich problematisch.
Die einfache Tatsache, dass jemand, der als „Aufsteiger“ und kluger Mensch wahrgenommen wird, auch nach glücklicher Vollendung des sozialen Umstiegs weiterhin einen restringierten Code verwendet, wirkt auf Simon also offensichtlich höchst verdächtig. Liegt es tatsächlich außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten, dass Bojcans Sprachverhalten anders zu interpretieren wäre als eine unlautere Masche – eine intendiert irreführende Zurschaustellung von Street Credibility – um sich Sympathievorteile zu erschleichen und den Blick der Autorin zu vernebeln?
Diesen herauszulesenden Vorwurf der Verstellung finde ich aus gesellschaftspolitischer Perspektive bedenklich, aus kulturpolitischer Perspektive problematisch und aus persönlicher Perspektive scheiße. Aus meiner Sicht tut Bojcan nichts weiter, als sich einer sozialen Anpassung zu verweigern, die hier ja ganz offensichtlich von ihm erwartet wird.
In der Psychologie gibt es den Begriff der adaptiven Präferenz. Er bedeutet ungefähr, dass das, was man für seine eigene freie Wahl hält, in Wahrheit das Resultat einer Anpassung an repressive Rahmenbedingungen ist. Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass es sich hier in Sachen Verstellung genau umgekehrt verhält, und sowohl Bojcan als auch Krömer gerade deshalb kluge und sensible Menschen sind, weil beide Personen der Verstellung eine intendierte Absage erteilen. Dass die Kunstfigur Krömer proletenhaft daherkommt, wird im Text legitimiert, weil es künstlerisch „funktioniert“. Alexander Bojcan darf aber kein Prolet sein. Auf den Punkt gebracht: Die Idee, dass die Verwendung eines restringierten Codes auf das Wahrnehmungs- und Denkvermögen einer Person schließen lassen, ist eine klassistisch motivierte Fehlannahme. Es ist möglich, dass sensible und kluge Menschen nicht so sprechen, wie die sozialen Strukturen, in denen sie sich bewegen, es voraussetzen. Menschen mit Bojcans Lebensrealität erleben sich in einem Umsteiger-Konflikt. Passen sie ihren Habitus nicht an die soziale Umgebung an, in der sie sich bewegen, liefern sie sich möglichen Repressionen aus. Andererseits bringt auch der permanente Anpassungszwang enormen Stress mit sich, weil alles Handeln und Verhalten vorgedacht und vorchoreografiert werden muss und nichts aus der Hüfte gelebt werden kann.
Wie würden Sie es empfinden, wenn Sie nicht so sprechen dürften, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, weil Ihnen ansonsten Denk- und Wahrnehmungsvermögen abgesprochen werden? Wie würden Sie es empfinden, wenn Sie feststellten, dass die Welt, in der Sie aufgewachsen sind, als eine Art Parallelwelt der Schwachen und Unteren und Machtlosen und Ungebildeten gelesen wird, und alles, was Sie habituell geprägt hat, keinen Wert hat in der Welt, die nicht Ihrer „Herkunft“ entspricht? Wie würden Sie es empfinden, wenn Ihnen Misstrauen entgegengebracht wird, sobald Sie sich so verhalten, wie Sie es von Ihren Eltern und Großeltern und Nachbar*innen und Freund*innen gelernt haben?
Unterm Strich:
- Es ist möglich, dass Menschen sich einem ihnen fremden Habitus nicht vollkommen anpassen, um Stress zu vermeiden. Möglichweise trifft dies insbesondere auf Menschen zu, die sich selbst und andere sehr sensibel beobachten und einschätzen können. Psychopathen ausgenommen.
- Es ist einem Menschen nicht möglich, sich einem fremden Habitus vollkommen anzupassen. Möglichweise trifft dies insbesondere auf Menschen zu, die sich selbst und andere sehr sensibel beobachten und einschätzen können.
Psychopathen ausgenommen. - Alexander Bojcan ist höchstwahrscheinlich kein Psychopath.